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AutorenbildKathrin Aßländer

Nr. 65, Weihnachten 2022: Von Glück und Dankbarkeit

Glück ist immer da




Liebe Leser:innen, 


die meisten von uns leben in einem Wohlstand, der in der Weltgeschichte einzigartig und für große Teile der Weltbevölkerung unerreichbar ist. Für eine Reisende aus einer anderen Zeit oder einem gar nicht mal so weit entfernten Ort müssen unsere Lebensbedingungen einem Schlaraffenland gleichkommen. Auch ein Blick ins eigene Land, wo ein warmes Zuhause nicht mehr für jede:n selbstverständlich ist, kann uns zeigen, wie gut wir es persönlich haben. 


Und doch blicken dieser Tage viele von uns voll Angst und Sorge in die Zukunft, anstatt glücklich und dankbar zu sein. Zufriedenheit und Glück hängen somit nicht nur von äußeren Bedingungen ab. Ebenso entscheidend ist unser Blickwinkel auf das, was uns gegeben ist. 


Machen wir uns bewusst, dass wir selbst entscheiden, ob wir unsere Aufmerksamkeit auf den Mangel oder auf die Fülle richten. Glück ist immer da – doch es will entdeckt werden. In der Stille und Achtsamkeit können wir eine unerschöpflich reiche Welt erkennen, die uns in unserer alltäglichen Geschäftigkeit oft verborgen bleibt. Aber sie ist immer da. 


Probieren Sie das doch gleich aus, wenn Sie mögen: Halten Sie kurz inne, nehmen Sie ihren Atem wahr, spüren Sie wie der Boden sie trägt, betrachten Sie Ihre Umgebung, als würden Sie sie zum ersten Mal sehen. „Wofür kann ich in diesem Augenblick dankbar sein?“ „Was macht mich im Hier und Jetzt glücklich?“ 


Wenn wir die Fülle erleben, erkennen wir auch, wie viel wir zu geben haben. Dann können wir unseren Beitrag leisten für eine gerechtere Welt. 


Vor ein paar Wochen reiste meine Schwester in die Türkei. Dort traf sie einen jungen Mann aus Marokko, der vor einigen Jahren als Jugendlicher Geflüchteter bei ihr gelebt hatte. Als sie mir von dem Treffen erzählte, drängte ich sie, über diese Begegnung zu schreiben. So entstand eine wunderbare Geschichte, die unter die Haut geht und die ich gerne nachfolgend an Sie weitergebe.


Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest voll Glück und Dankbarkeit!  


Herzlichst 


Ihre Kathrin Aßländer 


 

Istanbul mit Samir

von Judith Aßländer


Es ist Ende November und ich bin voller Vorfreude in Istanbul gelandet. Nach einem emotional sehr schwierigen Sommer freue ich mich auf eine lange geplante Wanderung an der Lyrischen Küste. Ich möchte einfach nur in der Natur sein und laufen. Einfach mit mir alleine mein inneres Chaos versuchen zur Ruhe zu bringen. Bevor ich mich jedoch weiter Richtung Süden begebe, will ich unbedingt noch Samir treffen. Wir kennen uns schon lange, haben uns aber drei Jahre nicht gesehen. Ich höre wie es am anderen Ende der Telefonleitung klingelt und Samir mich mit einem freudigen Wortschwall begrüßt. Leider scheint ein Treffen nicht ganz einfach zu sein: „Ach so, du hast ein Zimmer in Karaköy, da kann ich nicht hinkommen. Das ist in der Innenstadt. Kannst du Bus fahren?“ Etwas irritiert bejahe ich Samirs Frage. Und stelle die für mich völlig logische Gegenfrage: „Warum kannst Du nicht nach Karaköy kommen?“ Die Antwort ist verständlich, aber auch hart. Nach dem letzten Bombenanschlag haben die Kontrollen und Sicherheitsvorkehrungen in Istanbul massiv zugenommen. Für Samir ist es deshalb zu riskant, sich in Richtung Innenstadt zu bewegen. Er ist illegal in der Türkei – das Risiko, erwischt und abgeschoben zu werden, wäre zu groß.


Okay, das heißt, ich sollte mal ganz schnell schauen, wie ich an mobile Daten für mein Handy komme. Denn Samir hat mir einen Livestandort aus irgendeinem Vorort geschickt. Mit dem Bus sollte das zu machen sein. Aber nicht ohne Internet, da ich weder Busfahrpläne finde, noch Fahrtzeiten ausfindig machen kann. Der kleine Türk Telekom Laden in der Unterführung ist zwar willig, mir eine Touristen-SIM-Karte zu verkaufen, allerdings funktioniere gerade das Internet nicht und ich solle später wieder kommen, sagt der Verkäufer. Das ist kein Problem, ich wollte ohnehin erst einmal frühstücken gehen. Im November ist selbst Istanbul leer und so finde ich schnell ein nettes Plätzchen direkt am Kai, wo die Schiffe zu Istanbuls Inseln und ins Umland ablegen.


Gefüllt mit Schafskäse, Oliven, Honig, Brot und Tee laufe ich zurück zum Telekom Laden und hoffe, dass ich nun Glück habe. Mir wird der kleine schrabbelige Bürostuhl angeboten und versichert, dass es nur noch ein bisschen dauert. 15 Minuten später steckt eine neue SIM-Karte im Handy und, wenn ich es richtig verstanden habe, sollte ich in 20 Minuten Internet haben. Das reicht mir als Zusicherung und ich laufe über die Brücke in Richtung Innenstadt und Bushaltestelle, in der Hoffnung bald loszukönnen. Leider habe ich jetzt erst mal keine Zeit für Sightseeing und die Erkundung der Stadt. Meine Prio Nummer eins ist, Samir zu treffen. Menschen sind wichtiger als Gebäude oder Landschaften. Aber, da das Internet auf sich warten lässt, bummle ich doch durch den Bazar. Bunte, duftende Gewürze und Turkish Delight türmen sich in hübschen Läden auf. Daneben Keramik, Goldschmuck und Kaffeekannen. Es ist zauberhaft und tatsächlich fast zu leer. Die Polizei ist omnipräsent und steht gerne auch mal bewaffnet irgendwo herum. Ich fühle mich dadurch nicht sicherer, eher das Gegenteil ist der Fall. Aber das mag individuell verschieden sein.


Nach einer Stunde geht mein Internet immer noch nicht. Ich schalte das Handy ein und aus, aber da ist nichts zu machen. Es will nicht. Na gut, dann eben zurück. Über die Brücke, in die Unterführung und zum Telekom Laden mit dem schrabbeligen Bürostuhl. Der junge Verkäufer nickt, entschuldigt sich und erklärt mir in türkisch-englischen Brocken, dass es nicht an der Karte, sondern am Netz liege. Es gab in der Nacht heftigen Regen und jetzt sei das Netz überfordert, aber er kümmere sich. Zwei Telefonate und eine Ewigkeit später stehe ich wieder draußen, diesmal mit der Aussage, dass in 15 Minuten alles passen sollte. Mittag ist nun schon vorbei und ich laufe zurück ins Hotel, um über WLAN Samir zu kontaktieren und ihn nicht länger ohne Information warten zu lassen. Tatsächlich habe ich verpasste Nachrichten von ihm. Wann ich denn etwa komme und ob ich mich zurechtfinde. Also rufe ich ihn schnell an. Nachdem er mir zugehört hat und ich ihm versichere, sobald ich Internet habe, so schnell es geht zu ihm zu fahren, unterbricht er mich und sagt: „Nein, Judith, ich komme zu dir. Ich war noch nie in Karaköy und es ist nicht direkt die Innenstadt, das wird schon gehen.“ Aller Widerspruch meinerseits ist zwecklos. Also gebe ich ihm mit einem irre schlechten Gewissen meinen Standort durch. In ein bis zwei Stunden sei er da, meint er, und legt auf.


Verdammt. Ich fühle mich echt beschissen. Wieso bin ich nicht einfach zu ihm gefahren? Warum habe ich mich so lange mit technischen Details aufgehalten, anstatt einfach andere Lösungen zu finden? Ich hätte mich lediglich durchfragen müssen, das wäre schon irgendwie gegangen. Aber es hilft nichts, jetzt ist es zu spät. Und Samir hat sich das auch nicht mehr ausreden lassen. Nach eineinhalb Stunden laufe ich nervös vor dem Hotel herum. Ich würde ihm gerne entgegenlaufen, aber ich weiß nicht einmal, wo sein Bus halten wird. In der Gasse vor dem Hotel sitzen zwei Frauen bettelnd mit ihren Babys auf dem Boden und ich frage mich, in was für einer ungerechten Welt wir eigentlich leben. Ich gebe beiden Geld und fühle mich schlecht dabei. Deprimiert und voll Sorge um Samir gehe ich wieder in mein Hotelzimmer. Dort setze ich mich auf mein Bett und warte.


Dann endlich eine Nachricht. Ich bekomme den Standort eines Cafés geschickt, das nur wenige Meter vom Hotel entfernt ist. Erleichtert laufe ich los. Ich freue mich riesig, Samir nach drei Jahren wiederzusehen, und wir fallen uns in die Arme. Ich bin so erleichtert, dass vor mir ein gut gelaunter, lachender junger Mann steht, der weder vom Leben gebrochen zu sein scheint noch unterwegs verhaftet wurde. Nachdem er aus Deutschland nach Marokko zurückgekehrt war, haben wir regelmäßig telefoniert, aber seit es ihn in die Türkei verschlagen hat, hatten wir kaum Kontakt. Kaum sitze ich, kommt ungefragt ein zweiter Kaffee, den Samir schon für mich geordert hat. Und als wäre es eines dieser normalen Telefonate, schießt es gleich aus ihm raus. „Und Judith? Wie geht es Dir? Der Familie? Den Kindern? Was machen die Jungs? Ist Jonas noch unterwegs? Ist Lukas wieder gesund? Arbeitet dein Mann noch in der Wohngruppe? Sind alle gesund?“ „Gut, auch gut, die Jungs studieren, arbeiten, gehen zur Schule, ja Jonas ist gerade in Nepal, Lukas ist wieder gesund, mein Mann ist immer noch in der Wohngruppe”, antworte ich und muss lachen. Er auch. Ich frage ihn nach seiner Mutter und seinem Bruder in Tangier in Marokko. Er sagt, es ginge ihnen auch gut. Sein Bruder habe einen Job in der Fabrik seiner Mutter bekommen. Sie arbeiten hart und viel, aber sie seien gesund. „Weißt du, Judith, Gesundheit ist das Wichtigste.“ Ja, da hat er sicher recht. „Und du Samir?“, frage ich, „wie geht es dir?”


„Weißt du Judith, mir geht es gut. Ich habe ein Bett, genug Essen und Arbeit. Das ist okay.“ Das klingt okay, aber halt auch nur okay. Ich habe Bilder von Samirs Zimmer gesehen. Auf vielleicht 12 qm stehen zwei Stockbetten und in der Mitte ein kleiner Tisch. Ich frage genauer nach und Samir erzählt lachend, dass aktuell 17 Leute in seiner Wohnung in drei Zimmern leben. Zwei Zimmer sind mit Marokkanern belegt, eines mit Syrern. Betten gibt es allerdings nur 16, was heißt, dass in Samirs Zimmer immer einer auf dem Boden schlafen muss. Er lacht und erzählt, dass gerade zwei Jungs versuchen, nach Europa zu kommen. Das sei super, weil jetzt jeder ein Bett hat. Es nerve aber, dass sein einer Zimmergenosse nie arbeitet und fast nie das Zimmer verlässt. „Er schaut die ganze Nacht Filme oder telefoniert und lässt das Licht an. Da kann man nicht so gut schlafen.“ Ich versuche mir das für mich vorzustellen und scheitere. Ich bin schon genervt, wenn Straßenlaternen in mein Zimmer scheinen oder mein Mann schnarcht.


Morgens könne man dann zu einem Büro auf einem Platz gehen und die geben einem Jobs für den Tag, erzählt er weiter. Man geht in irgendwelche Fabriken als Tagelöhner. Samir zeigt mir lachend Blasen an seinen Fingern. Er hat gestern den gesamten Tag mit der Schere Stoffe zerteilt. Aber, erklärt er mir, das sei kein Problem. „Mal ist die Arbeit leichter, mal schwerer.“ Der Tageslohn liege bei gut 10 Euro, die Arbeitszeit betrage nur 8 Stunden, also deutlich weniger als in Marokko, wo es etwa 10 oder 11 Stunden sind. „Und das Beste ist, mittags gibt es für alle Mittagessen. Das ist super.“ Für mich hat Samir sich heute frei genommen und morgen will er das WM-Spiel Marokko gegen ich-weiß-nicht-wen sehen, da geht er auch nicht arbeiten.


Ich bin verwirrt. Da sitzt ein junger Mann mit Träumen und Zielen für sein Leben. Samir war nach Deutschland geflüchtet, hatte dort Deutsch gelernt und eine Ausbildung begonnen und ist dann aus Angst vor einer Abschiebung zurück nach Marokko, in der Hoffnung, auf legalem Weg ein Ausbildungsvisum zu bekommen. Das hat sich alles zerschlagen, da die Vergabe der Visa so kompliziert und undurchsichtig ist, dass er keine Chance sieht, dass das klappen könnte. In Marokko hat er vieles versucht. Er hat eine Ausbildung als Mechaniker für Nähmaschinen begonnen, versucht sein Abitur nachzumachen, schließlich hat er nach unendlichem „Klingelputzen“ einen Job am Fließband in einer Fabrik ergattert. In Tangier geblieben ist er für die drei Jahre eigentlich nur, weil Covid kam und die Welt im noch größeren Chaos versunken ist. Aber er hasst das Leben in Marokko. Er hasst die Korruption und die Ungleichheit. Er kann es nicht ertragen, dass seine Mutter mit Uniabschluss in einem beschissen bezahlten Job in einer Fabrik feststeckt. Sie wird immer arbeiten müssen, da es keine Rentenregelung gibt. Sie kann von dem verdienten Geld kaum leben. Und zu allem Überfluss hat sie zwei erwachsene Söhne, die genauso chancenlos versuchen, sich über Wasser zu halten, mit ihr die Wohnung teilen und sich unter diesen Umständen keine Zukunft aufbauen können.


Lange Zeit wollte Samir über das Meer Richtung Spanien zurück nach Europa. Marokko hat ihn in der kurzen Zeit seiner Rückkehr so fertig gemacht, dass er bereit war, alles zu riskieren. Und er wusste, was er riskiert. Die Menschen, die sich in unbrauchbaren Schlauchbooten auf das Meer begeben, tun das nicht, weil sie das Risiko und die Gefahr nicht kennen. Sie wissen nur, dass das, was sie hinter sich lassen, keine bessere Option ist. Für Samir ist es keine Option, ohne Zukunft, in der Wohnung seiner Mutter, dabei zuzusehen, wie sie sich kaputt arbeiten, ohne davon leben zu können. Ohne eine Chance auf ein kleines bisschen Selbstbestimmung oder Gerechtigkeit. Ich habe in vielen Telefonaten versucht, ihm auszureden, über das Meer zu fliehen. Ihn zu verstehen und irgendwie zu helfen. Ist es tatsächlich besser, sich als moderner Sklave und ohne Papiere auf den Tomatenfeldern Italiens kaputt zu arbeiten als das Leben in Marokko zu ertragen? Ist ein Leben in der Illegalität nicht immer auch der Weg in kriminelle Abgründe? Wir kamen da nie zusammen. Er war der Meinung, alles sei besser als so ein Leben in Marokko. Aber er hat auch fixe moralische Grenzen. Das weiß ich. Er würde zwar illegal in Europa sein, aber egal wie hart es kommt, Samir wird nie in skrupellose Kriminalität abrutschen. Und über allem steht immer sein Wunsch: „Ich möchte, dass meine Mutter ein besseres Leben hat.“


Nun sitze ich hier in Istanbul in einem schicken Café und schaue einem sortierten, gut gelaunten Samir ins Gesicht und bringe das alles nicht zusammen. „Samir, bitte erkläre mir das, ich kapiere es nicht. Was ist dein Plan? Wie siehst du dich und dein Leben? Ich will es verstehen.“ Wie immer beginnt die Ausführung mit „Weißt du, Judith, …”. Ich denke nur, „nein, ich fürchte ich weiß gar nichts”, aber das behalte ich für mich und lausche. „… ein Leben in Marokko bedeutet 10, 11 Stunden Arbeit in einem schlechten Job für 10 Euro am Tag, wenn du Glück hast. Ja, ich wäre dort ‚legal‘, aber es ist kein Leben für mich. Nachdem ich meinen Job in der Fabrik in Tangier im April verloren habe, hatte ich genug. Ich bin in die Türkei gereist. Das ist für Marokkaner ohne Visum möglich. Wir können legal für drei Monate dortbleiben, danach werden wir ‚illegal‘. Das waren gute Wochen! Ich konnte mich frei bewegen. Manchmal saß ich einfach mit vielen anderen Menschen am Meer oder ich bin durch die Stadt gelaufen und habe mir alles angeschaut. Ich wurde so oft nach meinem Ausweis gefragt, aber das war ja kein Problem. Ich war ja noch legal im Land. Es hat sich irgendwie cool angefühlt, ohne Sorge seinen Pass zeigen zu können.“ Er lacht. „Seit drei Monaten bin ich nicht mehr legal im Land. Ich traue mich nicht mehr in die Innenstadt, nur wenn ich für meine Fluchtversuche einkaufen muss, bin ich noch dort. Sonst nur im Vorort. Das ist okay. Hier kann ich 8 Stunden für 10 Euro arbeiten – mit Mittagessen. Das ist auch okay. Aber in Europa, in Spanien, arbeite ich für 50 Euro am Tag. Das ist viel besser! Auch wenn ich dort illegal leben muss. Aber Judith, ich bin Samir, ich kann das!“


Ich muss lachen. Das ist, seit wir uns kennen, ein wichtiger Satz. Ich antworte „Ja, du bist Samir, du kannst das!“ und grinse. Ich weiß nicht, ob so ein Leben überhaupt jemand „kann“, aber Samir wäre der Erste, dem ich es zutrauen würde. Meine Bedenken, dass das Leben in Spanien, was sein Wunschziel ist, teurer ist als ein Leben in Marokko oder der Türkei, wischt er beiseite. „Ja, weiß ich. Aber ich brauch nicht viel. Eine Matratze und Essen sind mir genug. In Spanien muss ich nachweisen, dass ich drei Jahre eine bezahlte Arbeit hatte, dann kann ich einen Aufenthaltstitel für ein Jahr bekommen und dann immer so weiter. Irgendwann darf ich vielleicht dableiben und meine Mutter nachholen.“ Keine Ahnung, ob das so ist. Aber Samir ist sehr schlau. Es wird schon was dran sein und ich hoffe, dass das immer noch so ist, sobald er spanischen Boden betritt.


Ich merke wohl, dass das Thema Familie und eigene Lebensplanung in seinen Ausführungen nicht mehr auftaucht. Vor der Covid-Pandemie war es ein häufiges Thema, dass er nicht wisse, wie er jemals Frau und Kinder haben kann, wenn er nicht einmal Arbeit findet, die für ihn allein zum Leben reichen würde. Aber ich traue mich nicht, es anzusprechen. Er wirkt zufrieden mit seinen Plänen und Wünschen und ich möchte das nicht zerstören. Dennoch frage ich mich, ob das tatsächlich kein Thema mehr ist. Ich habe alles, Familie, gesunde tolle Kinder, einen wunderbaren Mann, ein Haus, Arbeit, ausreichend Geld und vor allem bin ich, egal wo ich hinwill, immer legal dort willkommen. Mir wird schmerzlich bewusst, dass allein die Tatsache, eine Familie haben zu können, schon ein Privileg ist. Zudem fliege ich mal eben einfach in die Türkei und treffe dort Samir, der so viel auf eine Karte setzt, nur um irgendwie nach Europa zu kommen, um dort illegal ein besseres Leben zu haben als legal in seinem Heimatland.


Es ist mir unbegreiflich, dass jemand wie Samir nicht daran zerbricht, dies alles zu sehen und nicht haben zu können. Keiner von uns hat etwas dafür getan, in dieser Position im Leben zu sein. Das hat einzig und alleine mit dem Ort unserer Geburt zu tun. Ich glaube nicht, dass Dankbarkeit ausreicht, um dieses Privileg zu würdigen. Als ich Samir vor wenigen Wochen erzählt hatte, dass ich vorhabe, nach Istanbul zu kommen, fragte ich ihn, ob wir uns treffen wollen. Er schrieb, dass das toll wäre, er aber noch einen weiteren Fluchtversuch plane – und sollte dieser klappen, wäre er nicht in Istanbul. Ich wünschte ihm viel Erfolg und hoffte, dass es ihm gelingen möge – auch wenn dann ein Treffen in Istanbul nicht möglich wäre. Da wir aber nun gemeinsam über unseren halb leeren, mittlerweile kalt gewordenen Kaffeetassen sitzen und quatschen, frage ich nach, was schiefgelaufen ist.


Dieses Mal waren es die Kälte und der Regen. Er und seine Freunde mussten sich der Polizei stellen, weil sie sonst unterkühlt wären. Und was nun folgt, macht mich vollends fassungslos. Samir beginnt von seinen Versuchen zu berichten, die Türkei Richtung Europäische Union zu verlassen. Es waren vier oder fünf, seit er in der Türkei ist. „Der erste Versuch war, als ich gerade ein paar Wochen in der Türkei lebte.“ Er muss lachen, als er daran denkt. „Ich bin mit einem Freund los, und weil wir uns nicht auskannten, sind wir direkt durch ein Militärcamp gelaufen. Wir wurden gestoppt und gefragt, was wir denn hier wollen. Natürlich hat uns keiner geglaubt, dass wir wandern und Urlaub machen, direkt an der Grenze nach Bulgarien … Aber das Coole war, wir hatten ja noch eine Erlaubnis, in der Türkei zu sein. Sie haben uns zurück nach Istanbul geschickt und uns gedroht, dass es Ärger gibt, sollten sie uns hier oben nochmal erwischen. Das war ganz schön blöd. Aber ich lerne immer dazu, bei jedem Versuch! Das ist mir nicht mehr passiert.“ Dann wird er ernst und fast ärgerlich, als er weiter erzählt: „Das nächste Mal wollte ich es über Griechenland versuchen. Ich hatte mit Freunden ein Boot gekauft und Vorräte und alles. Wir wurden in der Nacht von Marokkanern überfallen, die uns alles weggenommen haben. Kannst du dir das vorstellen? Das waren meine Landsleute! Sie haben uns Messer an den Hals gehalten und uns alles genommen. Ich kann vieles aushalten und verstehen, aber das nicht! Wir sind doch alle gleich und wir haben alle das gleiche Ziel.“ Mit einem Seufzen fügt er hinzu: „Das ist vermutlich der Grund, warum ich es in meinem Land nicht aushalte.“


„Zwei Mal habe ich es über den Landweg nach Griechenland versucht, aber die Griechen sind schlimme Menschen. Das war schrecklich. Ich habe es über die Grenze geschafft, das ist kein Problem. Dann bin ich zu einem Parkplatz – Judith, geht dein Internet jetzt? Gib mir mal dein Handy.“ Er wischt über das Display und zoomt auf Google Maps rein und raus, dann schiebt er es mir unter die Nase und erzählt weiter: „Schau, hier ist die Grenze und dann kommt weiter hinten der Parkplatz. Hier nebenan ist ein Wald. Dort haben mein Freund und ich uns versteckt und wollten uns nachts unter einen LKW klemmen und mitfahren.“ Ich unterbreche: „Unter einen LKW klemmen? Bist du verrückt?“ Samir schiebt meinen Einwurf bei Seite. „Doch, das geht, mach dir keine Sorgen.“ Klar, als wären meine Sorgen das Problem. Hier sitzt mir jemand gegenüber, der nicht älter ist als meine Söhne, der selbst eine besorgte Mutter in Tangier sitzen hat, der mir Geschichten erzählt, die sich wie ein Bond-Film anhören, mit einer Leichtigkeit, als ginge es um den letzten Wochenendausflug in den Harz. Ich versuche, nicht durchzudrehen.


„Wir sind bis zu dem Parkplatz gekommen und haben uns im Wald neben an – siehst du, hier – versteckt und auf die Nacht gewartet. Aber wir wurden erwischt. Plötzlich hat jemand gerufen, wir sollen rauskommen. Mein Freund und ich rannten los. Er ist davongekommen, ich bin leider über eine Wurzel gestolpert und sie haben mich festgenommen.“ Er hält inne, ist in Gedanken wohl in der Nacht an diesem Parkplatz. Als er fortfährt, fragt er: „Weißt du was das Wichtigste ist, wenn du erwischt wirst? Oder glaubst, dass sie dich gleich erwischen? Du musst gut essen! Alles, was du bekommen kannst. Du hast nämlich keine Ahnung, wann es wieder etwas zu Essen gibt. In Griechenland ist das richtig schlimm. Dort sammeln sie die Flüchtlinge ein und sperren alle in einen Raum. Sie warten, bis es genug sind und bringen dann alle zurück in die Türkei. Das kann Tage dauern, bis du da rauskommst. Und die Griechen nehmen dir alles weg! Wirklich, das ist richtig hart. Sie schicken dich sogar ohne Schuhe zurück. Dann kommst du irgendwo in Istanbul an, hast kein Geld, keine Schuhe und bist ganz verrückt vor Hunger. So ist es schwer, quer durch die Stadt zur Wohnung zu kommen, ohne dass die Polizei dich erwischt. Griechen sind echt schlimm. Bulgarien ist viel besser!“ Samir schaut auf und grinst mich an. Ich ziehe zweifelnd die Augenbrauen in die Höhe. Jetzt muss er richtig lachen und sagt: „Doch echt, ich schwöre es dir!“


„In Griechenland wirst du geschlagen, du bekommst nichts zu essen, sie lassen dich tagelang hungern und dann schicken sie dich ohne Schuhe zurück. Das ist hart. In Bulgarien ist das besser.“ Wie er das so locker entspannt erzählt, hört es sich schon wieder an, als würde mir jemand von seinem letzten Urlaub erzählen, so nach dem Motto: „Echt Judith, der Robinsonclub in Bulgarien hat das viel reichhaltigere Büffet und auch die Rutschen im Badeparadies sind viel toller! Dagegen ist Griechenland echt Mist.“ Alles klar. „Jetzt versuche ich es über Bulgarien“, erzählt er weiter. „Es ist alles Glückssache, verstehst du? Irgendwann schafft man es. Mein Freund, der mit mir in Griechenland am Parkplatz war, er hat es geschafft, bei diesem Versuch. Er ist mit einem LKW gefahren und jetzt in Deutschland.“ „Wie ist das für dich?”, frage ich. Er zuckt mit den Schultern. „Hm, ist schon doof. Ich komme mir manchmal wie ein Depp vor, weil so viele es schaffen und ich nicht. Aber vor zwei Wochen haben sie zwei marokkanische Freunde von mir erwischt. Sie sitzen jetzt im Gefängnis für Flüchtlinge und warten darauf, nach Marokko abgeschoben zu werden. Das ist noch beschissener. Wenn sie mich schnappen und ich dann wochenlang im Gefängnis sitzen muss, rufe ich lieber einen Freund an, dass er mir meinen Ausweis aus der Wohnung bringt. Dann können sie mich gleich heimschicken. Im Gefängnis möchte ich nicht sein.“


„Es ist alles wie ein Spiel, ein großes Abenteuerspiel. Nur, dass das Spiel nicht fair ist. Die Polizei in Griechenland und auch in Bulgarien hat Nachtsichtgeräte. Damit können sie uns sehen, wir sie aber nicht. So ist es für uns richtig schwer, zu gewinnen.“ Jetzt muss ich lachen, über seine Idee, das Ganze als großes Abenteuerspiel zu sehen. Ich ziehe das Handy zu mir und schlage vor, mal zu googeln, was so Nachtsichtgeräte kosten. Wir grinsen uns an und für einen Moment habe ich das Gefühl, mitspielen zu dürfen. Auf der Seite der Unterlegenen. Aber so kommen wir nicht weiter. Diese Teile sind schwer zu bekommen und zu teuer, um sie bei jedem Versuch zu „verlieren“. Irgendwie schade. Jetzt wischt Samir wieder durch Google Maps und schiebt mir dann das Handy zu. „Hier geht es über die Grenze nach Bulgarien. Man zahlt in Istanbul ungefähr 100 Euro für jemanden, der einen bis zum Grenzzaun bringt und diesen mit einer Zange aufschneidet, so dass man über die Grenze nach Bulgarien kommt. Das ist relativ einfach. Wichtig ist auch, dass du gut vorbereitet bist. Dafür fahre ich vorher dann doch in die Innenstadt von Istanbul. Dort kaufe ich für ein paar Euro einen warmen Schlafsack.“ Ich schlucke und denke mit schlechtem Gewissen an meinen sündhaft teuren Schlafsack, den ich mir eben gekauft habe, nur um damit ein paar Tage wandern zu gehen. Dieses teure Ding wird höchstwahrscheinlich nie auch nur annähernd Härtetests wie Samirs Schlafsack bestehen müssen. „Dann ist es noch wichtig, warme Schuhe, eine Jacke, Regenjacke und sowas zu haben und natürlich Essen. Ich nehme immer so trockene Sachen mit.“ Er sucht nach Worten und ich springe neunmalklug mit meiner popeligen Outdoorkenntnis ein: „Nüsse, Trockenobst, Brot und Kekse?“ „Ja“, lacht er mich an, „genau. Man braucht nicht viel. Wasser gibt es dort genug. Ich falte mein Geld jetzt immer in kleine Päckchen, umwickle sie mit Plastik und wenn ich erwischt werde, esse ich das Geld schnell. Verstehst du?“ Ich starre ihn an. Er schaut ernst zurück: „Wenn ich es nicht esse, nehmen sie es mir ab. Ich brauche aber das Geld, wenn ich zurück in Istanbul bin. Sonst komme ich nicht heim.“ Soweit zu meinem kleinen Gefühl, etwas nachvollziehen zu können. Wanderung: ja. Äußere Umstände und Rahmenbedingungen? Nein. Das ist eine ganz andere Welt, zu der ich keinen Zugang habe.


Samir ist schon wieder auf Google Maps unterwegs. „Schau, hier bin ich das erste Mal lang. Aber sie haben mich, als ich über die Berge rüber war, geschnappt. Uns alle haben sie geschnappt. Die wissen ganz genau, was wir vorhaben, und sie sind schlau. Sie lassen uns durch die Berge wandern. Keiner von denen hat Lust, da hochzusteigen und nach uns zu suchen. Unten an der Straße sind sie dann überall und fangen dich ab. Da hast du keine Chance! Und immer nachts. Ich hasse diese Nachtsichtgeräte. Das ist nicht fair gespielt! Einmal habe ich es bis nach Burgas geschafft. Kennst du Burgas?“ Nein, kenne ich nicht. Ich war noch nie in Bulgarien, also schüttle ich den Kopf. „Burgas ist schön! Ganz Bulgarien ist schön! Da musst Du unbedingt mal hin. Ich hatte schon ein Ticket am Bahnhof gekauft. Dann kam die Polizei und hat mich kontrolliert. Das war wirklich doof. Ich war so nah dran! Ich möchte es wenigstens bis Serbien schaffen. Das wäre schon ein Traum. Oder vielleicht versuche ich es auch mal über Rumänien, das könnte einfacher sein. Weißt du, Judith, es ist wichtig, mit wem man loszieht. Schlecht sind Leute, denen du nicht trauen kannst. Das geht nicht, weil du musst dich auf alle verlassen können. Auch ist es schlecht, wenn jemand raucht. Dann finden sie die gleich. Zigaretten riechen die Hunde und auch die Menschen schnell. Am liebsten gehe ich mit Leuten, die neu sind. Sie hören dann alle auf mich und ich habe das Kommando. Manchmal überlege ich, alleine zu gehen. Aber wenn ich in den Bergen stürze oder mich verletze, kann mir niemand helfen. Das ist zu gefährlich.“ Da stimme ich gerne wieder zu, obwohl ich das alles ziemlich gefährlich finde, was ich Samir auch wissen lasse. Aber da lacht er schon wieder und erklärt mir, dass er ja vorsichtig sei. Er holt sein eigenes Handy raus und fängt an, die Bilder zu durchwühlen. Und dann gerät in mir alles durcheinander: Er zeigt mir tatsächlich Bilder von seiner Flucht durch Bulgarien, als wären es Bilder vom letzten Wochenendausflug im Harz. „Schau, das ist ein Video. Wir müssen einen Bach in den Bergen durchqueren. Das war saukalt! Und hier? Siehst du die Berge? Judith, du musst wirklich mal nach Bulgarien. Es ist so schön dort!“


Wir sitzen seit fast drei Stunden im Café, immer noch vor den beiden ersten Tassen, aber das scheint den Kellner nicht zu stören. Er lässt uns in Ruhe. Draußen ist es dunkel geworden. Hinter Samirs Rücken ist ein großes Fenster. Dort laufen gerade zwei bewaffnete Polizisten vorbei. Die Gewehre fest in beiden Händen. Mir wird übel und ich bekomme Herzrasen. Samir kann sie nicht sehen und ich schweige. Aber ich frage ihn, warum er trotz des Risikos doch zu mir in die Innenstadt gekommen ist. Ich hätte es schon noch zu ihm geschafft, auch wenn ich mich erst blöd angestellt habe. Aber Samir bleibt Samir und erklärt mir: „Weißt du, Judith, ich habe keine Lust mehr, Angst zu haben. Es nervt mich. Ich will leben! Und wenn ich immer Angst habe, kann ich das nicht. Ich habe so viel gesehen und erlebt. Wovor soll ich denn noch Angst haben? Ja, ich möchte nicht geschlagen werden, darum versuche ich es jetzt erst mal nicht mehr über Griechenland. Und ja, ich möchte nicht wochenlang ins Gefängnis. Darum habe ich den Plan, mir von jemandem im Notfall meinen Pass bringen zu lassen. Ich kenne alle Wege, ich weiß, was ich tue, und ich möchte keine Angst mehr haben.“


Alles klar, klingt gut, schaffe ich aber nicht. Ich habe Angst, weil die Polizei immer noch durch die Gasse hinter Samir läuft. Dann verschwindet sie in eine andere Richtung. Es ist spät geworden und mein Magen knurrt laut. Samir lacht und ich frage ihn, ob wir zusammen noch irgendwo etwas essen wollen. Aber er will sein Glück nicht herausfordern und ich bin darüber etwas erleichtert. Wir nehmen unsere Jacken und Samir besteht darauf, den Kaffee zu bezahlen. Ängstlich frage ich, ob es besser ist, wenn wir zusammen gehen oder ob er sicherer ist ohne mich. Wieder dieses vertraute Grinsen: „Weißt du, als dein Sohn Jonas bei mir in Marokko war, wurden wir zwei Mal von der Polizei angehalten. Ich wurde ausgefragt, warum ich mit dem Jungen unterwegs bin und ob ich eine Touristenführerlizenz habe. Jonas musste jedes Mal der Polizei versichern, dass wir uns kennen. Sonst hätte ich Riesenärger bekommen. Aber hier ist das nicht so. Kommst du noch mit über die Brücke zum Bus?“ Klar mache ich das. Er legt mir einen Arm um die Schulter und wiederholt zum bestimmt fünften Mal, wie sehr er sich freut, mich zu sehen und dass ich gekommen bin. Er verspricht mir, seine Mama zu grüßen und sich jeder Zeit zu melden, wenn er ein Problem hat. Wir haben darin schon etwas Erfahrung. Immerhin kennen wir uns, seit er als Minderjähriger nach Deutschland kam und bei uns in der Familie gelebt hat. Als sein Bus kommt, drückt er mich fest. Ich nehme ihm das Versprechen ab, vorsichtig zu sein, und er antwortet nur: „Klar, ich bin doch Samir.“ Dann verschwindet er wieder aus meinem Leben und lässt mich sehr nachdenklich zurück.

 

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